Engel, Lumpen und Totengräber
SZ - 03.05.2011
Zeitreise ins 17. Jahrhundert neu erleben
Rinteln (cok). Man kann ihnen leibhaftig begegnen, Rintelner Bürgern aus der Zeit um 1600: Tor- und Nachtwächter sind dabei, die Frau des Henkers ebenso wie ein Professor der jungen Universität oder eine würdige Ratsherrenfrau. Angeführt von „Frau Fama“, der Gerüchteverbreiterin, führen sie durch das Rinteln des Mittelalters und der Neuzeit in einer unterhaltsamen Stadtführung, die beinahe eine Reise mit der Zeitmaschine bedeutet.
Es gibt ja Ecken in der Stadt, wo man sich wirklich viele Hundert Jahre zurückversetzt fühlen kann, und genau dahin begibt sich die Truppe von „Viva Historica“ mit ihren Gästen, die sechs Euro dafür zahlen, dass sie in vielen kleinen gespielten Szenen in die Geschichte Rintelns eintauchen dürfen. „Engel, Lumpen, Totengräber“, so nennt sich das Programm. Und schon steht man zum Beispiel am alten Stadtturm in der Mühlenstraße, direkt an der Stadtmauer, wo sich kleine, alte Häuser drängeln und damals der ärmere Teil der Bevölkerung lebte, darunter auch die „Freiweiber“, die Huren.
Im Gespräch zwischen Henkers- und Ratsherrenfrau stellt sich heraus, dass die Weiber in ihrer gekennzeichneten Kleidung – sie mussten ein gelbes Band an ihre Rocksäume nähen – durchaus ihren festen Platz in der Gesellschaft hatten. Junge Männer verloren keinesfalls ihren Ruf, wenn sie im Hurenhaus gesehen wurden, anders allerdings die Ehemänner oder gar ein junges Mädchen, das im Verdacht stand, die Hurenlaufbahn einzuschlagen. Der Rat selbst besaß das städtische Bordell, welches er dann an die „Frauenwirte“ verpachtete, Einnahmen, auf die man nicht hätte verzichten wollen.
Wer innerhalb der Stadtmauern lebte, die Mitte des 11. Jahrhunderts entstand, der sollte sein Auskommen finden und in der Not unterstützt werden. Bettler, Landstreicher, „herrenloses Gesindel“ aber wurden, so erzählt es der Torwächter in seiner würdigen Uniform, an den Toren abgefangen. Je besser es den Bürgern ging in den Jahren vor dem Dreißigjährigen Krieg und der großen Pest, desto mehr schützten sie sich vor denjenigen, die keinen Platz in der streng organisierten städtischen Gesellschaft gefunden hatten.
Wie sehr jeder dort stehen bleiben sollte, wo ihn Gott nun mal platziert hatte, erfährt man auf dieser ungewöhnlichen Stadtführung wie nebenbei. In der „Herrengasse“ zu Beispiel wohnten keineswegs die Herren und sie ließen sich dort auch niemals blicken. Es war die Gasse der „unehrenhaften“ Zünfte, der Schweinehirten, Abdecker, Nachtwächter und der Henkersfamilie. Hier stank es, Aasvögel, Ratten und Fliegen wimmelten herum, und wenn der Henker in seinem roten Mantel auch mal ein Feierabendbierchen trinken wollte, dann bekam er in der Wirtschaft einen nur ihm vorbehaltenen Tisch zugewiesen, gleich neben der Tür.
Stolz ist die Frau des Henkers dennoch, gehört sie doch zu einer Dynastie, die durchaus ihr Geld zu verdienen weiß – etwa durch ärztliche Behandlungen, mit denen sich die auch als Folterknechte eingesetzten Henker gut auskannten. Diese mussten die ausgerenkten Gliedmaßen ihrer Opfer doch auch wieder einrenken, damit sie heil und in einem Stück hingerichtet werden konnten. In einer Spielszene nähert sich sogar die Professorenfrau mit ihrem verletzten Sohn der Henkersmadame und zahlt ganze vier Taler, damit ihr Junge wieder gesund würde.
Am Kirchplatz hält der Universitätsprofessor eine Rede. Er plädiert für einen neuen Friedhof am Seetor, außerhalb der Stadt, fern vom Leben der Bürger, die unter dem Gestank leiden, der von den vielen Toten rund um die Kirche ausgeht. Diese sind dort eher chaotisch beerdigt, aus Platzmangel viel zu flach im Boden verscharrt und oftmals unfreiwillig wieder ans Licht gekommen, bei Hochwasser und wenn streunende Hunde den Boden durchwühlten. In diesem Moment wird den Gästen der Führung klar, dass sie tatsächlich auf einem alten Friedhof stehen und unter ihren Füßen sicher noch Knochen der einstigen Rintelner zu finden sind.